Kommentar

Das Smartphone kann aus der Corona-Krise führen – doch zu einem Gängelband des Staates darf es nicht werden

Von unseren Smartphones erhobene Geo- und Gesundheitsdaten könnten wesentlich zur Überwindung der Corona-Krise beitragen. Konkret wird auch in der Schweiz an Methoden wie Contact-Tracing gearbeitet. Das Smartphone ist aber in erster Linie ein Instrument der Selbstbefähigung.

Christiane Hanna Henkel Kommentare
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Illustration Peter Gut

Es ist erschreckend, wie schnell unser Alltag zu einem Albtraum geworden ist. Vor vermutlich nur wenigen Monaten war auf einem Tiermarkt in China ein neuartiges Coronavirus auf einen Menschen übergesprungen. Nun tyrannisiert das Virus die Welt. Diese hat sich auf Geheiss der Regierenden selbst eingesperrt. Sie sucht Schutz vor dem Virus, aber vor allem sucht sie eines – einen Weg heraus aus dem Stillstand, der längerfristig gefährlicher ist als das Virus.

Über das Smartphone erhobene Geo- und Gesundheitsdaten werden dabei voraussichtlich eine wichtige Rolle spielen. Autokratische Staaten haben es bereits vorgemacht, wie man über eine App an Covid-19 Erkrankte orten und ihre Bewegungen überwachen kann. Damit kontrolliert die App die Einhaltung einer verordneten Quarantäne und kann Dritte bei allfälligem Kontakt mit Infizierten informieren. 

Auch in den westlichen Demokratien müssen wir uns jetzt damit beschäftigen, inwiefern wir sehr persönliche Daten dem Staat oder Dritten anvertrauen wollen oder es gar müssen. Lange schien die Diskussion um Privatsphäre und Datenschutz in Europa vor allem ein Zeitvertreib der Brüsseler Bürokraten zu sein. Doch das Virus hat – wie so vielen anderen Bereichen auch – der Informationstechnologie einen kräftigen Entwicklungsschub verliehen. Heute stehen wir konkret vor der Frage: Welche Daten wollen und sollten wir an wen und unter welchen Bedingungen geben, damit wir dem Virus möglichst schnell den Garaus machen können?

Ein Verbleib oder ein Rückzug in analoge Zeiten wird auch in der Schweiz keine Option sein. Es wird noch sehr lange dauern, bis eine genügende Immunität in der Gesellschaft – sei es durch eine Impfung oder durch eine ausreichende Durchseuchung – hergestellt ist. Und so lange bleibt die Pandemie eine Gefahr: Neue Infektionsherde können überall und jederzeit entstehen. Schutz bietet derzeit nur der staatlich angeordnete Rückzug in die eigenen vier Wände. Die wirtschaftlichen und sozialen Kosten aber sind erheblich. Es ist davon auszugehen, dass ein weiterer Shutdown in einer allfälligen späteren Pandemiewelle die Welt in eine noch schlimmere wirtschaftliche Depression stürzen würde.

Das Smartphone könnte nun aber wesentlich dazu beitragen, dass die derzeitige Pandemie abebbt und eine neue schon im Keim erstickt wird. Die grösste Hoffnung liegt auf dem sogenannten Contact-Tracing: Mittels einer speziellen App liesse sich für jeden Bürger nachvollziehen, ob er mit einem mit dem Virus infizierten Bürger in Kontakt gekommen ist. Er könnte sich sofort eigenverantwortlich in Quarantäne begeben und vor allem besonders gefährdete Mitbürger schützen. Die Übertragungskette wäre unterbrochen. Die Infektionskurve, die den Verlauf der Neuansteckungen mit Sars-CoV-2 darstellt, würde abflachen («flattening the curve») .

Oder besser noch: Eine Pandemie entstünde erst gar nicht, weil bereits der erste mit Covid-19 diagnostizierte Patient – der sogenannte Patient O – verhindern kann, dass er Infektionsketten auslöst. Der Einsatz von herkömmlichen Methoden, bei denen etwa durch Befragungen allfällige Ansteckungsketten nachgezeichnet werden, hat sich angesichts der leichten Übertragbarkeit des Virus als nutzlose Sisyphos-Arbeit herausgestellt.

Damit das digitale Contact-Tracing funktioniert, muss jedoch eines gewährleistet sein: Der Staat muss möglicherweise Erkrankte und auch Bürger ohne Symptome in grossem Stil testen – etwas, woran die Behörden in Europa bisher gescheitert sind. Vielleicht kann von unternehmerischen Geistern auf der anderen Seite des Atlantiks die nötige Inspiration gewonnen werden. 

Nicht als Vorbilder hingegen taugen autokratische Staaten wie China, die in den vergangenen Monaten ihre über das Handy betriebene Überwachungssysteme noch ausgebaut haben. Und Länder wie Südkorea oder Singapur haben im Zuge der Pandemie wenig Skrupel gezeigt, die Privatsphäre ihrer Bürger zugunsten des Allgemeinwohls via Smartphone auszuhöhlen. Aber auch die westlichen Demokratien bereiten derzeit alles vor, damit sie in ihrer Not direkten Zugriff erhalten auf Daten, die über Handys oder Smartphones gesammelt werden.

Die EU-Kommission hat bereits mit den europäischen Telekomanbietern über die Möglichkeit des Transfers von anonymisierten Standortdaten gesprochen. Und kurz vor Ostern hat die Kommission ein Projekt zur europaweiten Nutzung von Geodaten lanciert; es soll auf Länderebenen durchgeführt werden auf der Basis eines gemeinsam entwickelten digitalen Werkzeugkastens. In der Schweiz etwa liefert die Swisscom bereits anonymisierte Geodaten für einige ausgewählte Regionen oder städtische Plätze an das Bundesamt für Gesundheit; auf dieser Grundlage werden vor allem auf Gruppen aggregierte Bewegungsprofile angelegt. Eine Gruppe von europäischen Forschern hat zudem jüngst einen informationstechnischen Baukasten entwickelt, aus dem sich laut eigenen Angaben datenschutzkonforme Contact-Tracing-Anwendungen zusammensetzen lassen (Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing, kurz: Pepp-Pt). Auch die grossen Techkonzerne arbeiten an entsprechenden Lösungen.

Jede neue Technologie und ihre Anwendung bergen neben den Chancen auch Gefahren in sich. Und die Nutzung unserer Geo- oder Gesundheitsdaten durch Dritte darf nicht zu einer Aufweichung unserer Privatsphäre und des Datenschutzes führen. Experten sind sich weitgehend darin einig, welche Kriterien eine App und die ihr zugrunde liegende Software erfüllen müssen, damit Daten und Privatsphäre geschützt sind. Diese Kriterien sind eindeutig und auch für Laien verständlich. So sollte eine solche App nur diejenigen Daten erheben, die auch tatsächlich notwendig sind; Geburtsdaten oder E-Mail-Adressen sind das in den meisten Fällen nicht. Die Daten sollten möglichst nur auf dem Gerät selbst gespeichert werden und nicht an zentraler Stelle; das schützt vor Missbrauch. Die Funktionsweise der Software muss nachvollziehbar sein (Offenlegung des Quellcodes). Dass es keinen Zwang geben darf, diese App zu benutzen, versteht sich von selbst. Und sie muss verhältnismässig sein: Sie sollte nur eingesetzt werden, wenn es keinen anderen Wege gibt, das Ziel mit einen ähnlichen Aufwand zu erreichen.

Das wichtigste Kriterium für neue IT-Lösungen für die Pandemie aber ist, dass sie die Autonomie und die Freiheitsgrade eines jeden Bürgers stärken. Die Geschichte des Smartphones ist letztlich die Geschichte der Selbstbefähigung. Zu einem staatlichen Gängelband oder gar zu einem staatlichen Überwachungsinstrument darf das Smartphone nicht werden. Dazu gehört allerdings auch, dass sich jeder Bürger mit diesen neuen Technologien und ihrem Einsatz auseinandersetzt, um den nun forcierten Weg in eine digitale Gesellschaft mitbestimmen zu können.

Es wird sich zeigen, wie gross das Vertrauen der Bürger in die Regierenden und die Behörden ist, wenn es dann konkret um den weitflächigen Einsatz von Contact-Tracing-Apps oder die staatliche Auswertung von privaten Gesundheits- und Geodaten geht. Die Erfahrungen der vergangenen Wochen hinsichtlich des Umgangs des Staates mit den Freiheitsrechten seiner Bürger dürften gemischte Eindrücke hinterlassen haben.

Dass die meisten Bürger dem Shutdown bereitwillig gefolgt sind, ist angesichts der Alternativlosigkeit, wie sie sich Mitte März darbot, nicht überraschend. Und viele liessen und lassen sich nur allzu gerne von dem sich in Berlin, Brüssel und Bern ausbreitenden Staatspaternalismus auffangen. Doch zunehmend regt sich Kritik. Die Aufgabe vieler Freiheitsrechte ist der Preis, den die Bürger bezahlen für das Versagen der Experten und Regierenden, das Land auf eine solche Pandemie vorzubereiten. Eine vom Robert-Koch-Institut angefertigte und im Jahr 2012 im Deutschen Bundestag vorgestellte Studie hatte die Pandemie mit fast schon hellseherischer Kraft als ein mögliches Zukunftsszenario aufgezeichnet. Eine Pandemiestrategie wurde dennoch nicht entwickelt.

Man stelle sich einmal das gegenteilige Szenario vor: Auf eine Pandemie vorbereitete Behörden hätten rasch gehandelt. Die Bevölkerung wäre umfassend mit Masken ausgestattet worden. Damit hätten die Bürger ein zusätzliches Instrument zur Hand gehabt, um eigenverantwortlich zu handeln und die Ansteckung von Mitbürgern zu verhindern. Und die öffentliche Hand hätte dafür gesorgt, dass den Bürgern ausreichend Testmöglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten. Das flächendeckende Testen hätte es den Bürgern ermöglicht, dass sie verantwortungsvoll, selbstbestimmt hätten handeln können – anstatt als gesamtes Volks entmündigt in ihre Wohnungen beordert zu werden. 

Es war eine Frage der Vernunft, den Appellen der Politiker zum privaten Lockdown zu folgen. Zu wenig wussten wir am Anfang über die Lage, über das Virus und seine Auswirkungen. Da hiess es: Zeit gewinnen, Wissen und Handlungsoptionen schaffen. Einen Teil unserer Freiheiten haben wir bereits mit den Beschränkungen des öffentlichen Lebens – und tun das immer noch – geopfert. Ein zweites Mal darf es das – auch wenn ein Trade-off zwischen Privatsphäre und Gemeinwohl für die Regierenden beim Contact-Tracing abermals verlockend wäre – nicht geben. Auch das ist ein Frage der Vernunft.

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